
Anarchie
Denn glauben Sie mir: Die Studis machen eh, was sie wollen. Bedrohlich viele von ihnen sind nämlich mit der Bedienung des Internets vertraut und können binnen Sekunden zahllose Anbieter finden. Leider sind auch viele schwarze Schafe dabei – seien es himmelschreiend inkompetente oder gar solche, die sich selbst vollkommen ungeniert als „akademische Ghostwriter“ bezeichnen und gleich die Erstellung ganzer Arbeiten anbieten.Selbstmitleid
Erfahrene, professionelle und vor allem nach wissenschaftsethisch einwandfreien Prinzipien arbeitende Wissenschaftslektoren sollten eigentlich, wie es in den anglo-amerikanischen Länden der Fall ist, wichtige und wertvolle Bestandteile des akademischen Betriebs sein. Leider bekleiden wir aber ein Schattendasein; aufgrund weitgehend ungeregelter Rechtsverhältnisse sind wir dazu gezwungen, diskret und im Verborgenen zu agieren. Das nervt entsetzlich und zehrt am Selbstvertrauen.Paradoxie
Tatsache: Die Fähigkeiten der Studienanfänger bezüglich der deutschen Sprache befinden sich seit zwei bis drei Jahrzehnten im freien Fall. Über die Gründe ließe sich hinlänglich diskutieren; über die Tatsache an sich hingegen nicht. Ergebnis: Nur eine unbedeutende Minderheit der heutigen Universitätsabsolventen ist in der Lage, auch nur zwei fehlerfreie Sätze in Folge zu verfassen. Die Regeln der Kommasetzung halten sie wie viele andere auch allenfalls für eine unverbindliche Empfehlung. Der Grund: Es wurde ihnen schlicht noch nie beigebracht. Das ist schlimm genug; noch schlimmer hingegen wird es, wenn gerade in den ambitionierten geisteswissenschaftlichen Fächern diese Fähigkeit zu fehlerfreier Wissenschaftssprache nicht nur vorausgesetzt wird, sondern sogar explizit mit in die Benotung einfließt. Lösung: Wo die Schule versagt, muss die Uni ran. Die Studis sollten verbindlich hinsichtlich der Regeln der deutschen Wissenschaftssprache geschult werden; am besten gleich in Form eines verpflichtenden Propädeutikums.Qualitätsmanagement
Ich darf doch mal träumen? Danke. In meinem Utopia gibt es an jeder Fakultät einheitliche, klar definierte und verbindlich kommunizierte Regeln hinsichtlich Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik, Semantik und Rhetorik. Die Formatierungsvorgaben sind ebenso unmissverständlich geregelt wie die Zitiervorschriften, und zwar über die Grenzen des eigenen Lehrstuhl-Horizonts hinweg. In meinem Utopia darf man „zuungunsten“ nicht als falsch anstreichen, nur weil man Probleme mit der Rechtschreibreform hat. Dort kennt jeder die Bedeutung der Duden-Empfehlung und hält sich daran. In meinem Utopia kennt jeder Studienbeginner die Regeln wissenschaftlichen Arbeitens und vor allem auch der wissenschaftlichen Sprache und ist als Absolvent in der Lage, schriftlich so zu kommunizieren, wie es von einem Akademiker zu erwarten ist. Und – lassen Sie mich das mit einem Augenzwinkern anfügen: In meinem Utopia bin ich an der Umsetzung dieser ehrgeizigen Ziele natürlich beteiligt!Gestalten statt ignorieren
Die Inanspruchnahme eines Lektorats sollte grundsätzlich jedem Studierenden freigestellt sein. An jeder Fakultät sollte daher eine Liste akkreditierter Lektoren vorgehalten werden. Diese Experten sollten neben ihrer fachlichen Kompetenz auch dazu verpflichtet sein, sich beim Lektorat an genau festgelegte Regeln zu halten. Die Optimierungen sollten somit in fakultätsweit geregelten, eng gesteckten Grenzen stattfinden, die übrigens relativ einfach zu definieren sind. Die Studierenden, die eine solche Dienstleistung in Anspruch genommen haben, sind verpflichtet, dies in ihrer Erklärung über die verwendeten Hilfsmittel am Ende der Arbeit anzugeben. Problem gelöst; alle haben gewonnen. Die Studis sind auf der sicheren Seite, an der Universität werden formal perfekte Texte zum Standard, und die beteiligten Lektoren müssen nicht länger ihre Dienstleistung verschämt im Verborgenen offerieren.APROPOS BEWERTEN …
Natürlich stellt sich die Frage, ob man die Kenntnisse bezüglich der deutschen Sprache mit in die Bewertung einer Abschlussarbeit einbringen kann, darf, soll. Ohne Zweifel: Man kann, und man darf. Aber ob man sollte und unter welchen Bedingungen, ist nicht ganz so einfach zu beantworten. Folgende Szenarios sind zu berücksichtigen:Szenario 1: Boris Müller und Johanna Schmidt Boris stammt aus schwierigen sozialen Verhältnissen und hat sein Gesamtschulabitur mit Hängen und Würgen geschafft. Er beherrscht die Regeln der deutschen Sprache eher zufällig, was aber bis heute niemanden interessiert hat. Johannas Vater ist Arzt und ihre Mutter Deutschlehrerin. Johanna liest seit ihrem zehnten Geburtstag die FAZ und hat eine Privatschule besucht.
Szenario 2: Derya Kaya und Metin Öztürk Derya ist mit ihren Eltern vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Ihre Eltern sprechen kaum Deutsch und verdienen ihr Geld mit ungelernten Tätigkeiten. Metins Eltern sind in Deutschland geboren und beide von Beruf Rechtsanwälte.
Szenario 3: Xiaomeng Li, Abdul El-Hammadi, Conzuela Duarte, Igor Yuzakov … sprechen zum Teil nur rudimentär Deutsch, weil sie erst seit Kurzem im Land sind. Und zu einem anderen Teil beherrschen sie die Regeln unserer Sprache deutlich besser als ein durchschnittlicher einheimischer Abiturient, weil das Goethe-Institut supergute Arbeit leistet (gibt’s übrigens wirklich, und nicht selten!)